Reha und Training teilen dieselben Probleme – An deinem Plan liegt es wahrscheinlich nicht

jebrini training neuroathletik neuroathletiktraining rehabilitation training yassin jebrini Jul 21, 2025

Du hast den Plan geschrieben. Durchdacht. Progressiv. Logisch.
Du hast die Übungen gewählt, die passen. Du hast akribisch die Belastung angepasst.
Vielleicht sogar das Tempo. Du warst aufmerksam. Hast beobachtet und korrigiert.

Und trotzdem:

Die Ausführung bleibt fahrig. Das Bewegungsmuster bricht zusammen.
Der Klient sagt: „Irgendwie fühlt sich das komisch an.“, oder „Ich mag die Übung einfach nicht.“
Oder schlimmer – er friert ein. Blick leer, Körper steif.

Du versuchst es nächste Woche wieder. Noch eine Regression. Mehr Cueing.
Ein Demo-Video oder ein großer Spiegel. 

Nichts. Keine Veränderung. Kein Fortschritt.

Und irgendwo zwischen dem fünften Durchlauf und deinem eigenen inneren Frust stellt sich leise, fast schambesetzt, die Frage:

„Woran liegt es? Mache ich etwas falsch?“
„Warum komme ich nicht an diesen Menschen ran?“


Es liegt wahrscheinlich nicht am Plan. Es liegt am System, das ihn blockiert.

In der klassischen Reha- und Trainingswelt haben wir gelernt, dass Bewegungsprobleme gelöst werden durch:

  • korrekte Technik

  • angemessene Last

  • saubere Progression

Wir korrigieren Bewegungsmuster, programmieren nach Logik – aber wir haben nicht gelernt, gezielt mit dem System zu sprechen, das diese Bewegung überhaupt erst freigibt: dem Nervensystem.

Und genau das ist oft der stille Saboteur im Raum.

Denn das, was wir als „Fehlhaltung“, „Kompensation“ oder „Widerstand“ interpretieren, ist in vielen Fällen keine Schwäche, kein Mangel an Disziplin, kein Technikdefizit – sondern ein neurophysiologischer Schutzmechanismus.


Deine Klienten kommen zu dir, weil sie Hilfe benötigen und Fortschritt erzielen möchten. Da werden sie wohl kaum aktiv verweigern.

Es ist keine Trainingsverweigerung. – Es ist Bewegungsvermeidung!

Nicht bewusst. Nicht strategisch. Sondern reflexartig. Das Gehirn schützt – wenn es Gefahr wittert.

Und Gefahr heißt aus Sicht des Nervensystems nicht „Schmerz“ im klassischen Sinne.
Gefahr bedeutet:

  • Ungewissheit in der Wahrnehmung

  • Mismatch zwischen Systemen

  • Alte, unvollständige integrierte (rehabilitierte) Verletzungen

  • Unkartierte Bewegungen

  • Emotionale Unsicherheit

Was folgt, ist keine bewusste Entscheidung. Es ist ein neuroprotektives Muster – in einer Art Tarnumhang.


Typische Tarnungen

  1. Kompensationsmuster:
    Kniebeuge wird Hüftbeuge.
    Plank hängt im Nacken.
    Überkopfdrücken kippt in die LWS.

➡ Das ist kein "schlecht gemacht", das ist: „Dort ist’s sicherer.“

  1. Tempoverlust:
    Reps werden gehetzt.
    Exzentrik? Gibt’s nicht. Die Schwerkraft regelt.

➡ Warum? Weil Langsamkeit Sensorik erzeugt – und das will das System gerade nicht.

  1. Musterauswahl:
    Keine Rotation. Kein Überkopf. Kein Übertritt der Mittellinie.

➡ Kein Zufall. Das Gehirn wählt, was es kontrollieren kann – und meidet, was es nicht vorhersieht.

  1. Lastvermeidung:
    Mit Gewicht bricht alles zusammen, obwohl ohne Last alles sauber wirkt.

➡ Nicht die Kraft ist unsicher. Die eigene Körperkarte wird gestört.

  1. Einfrieren:
    Der Klient beginnt, dann bricht die Bewegung.
    Oder er braucht ewig, um zu starten. Sowohl mental, als auch physiologisch.

➡ Die Bewegungsplanung ist blockiert. Der Startbefehl fehlt.

  1. Bracing & Spannung:
    Kiefer presst. Zehen krallen. Schulter hoch. Faust geballt.

➡ Das ist kein Kraftproblem – das ist ein Notfall-Pseudo-Stabilitätsersatz.

  1. „Mag ich nicht“-Reflex:
    „Die Übung ist nix für mich.“ ; „Das Band ist unangenehm in der Hand.“ …

➡ Die Inselrinde hat den Alarm gedrückt. Kein Geschmack, sondern gespeicherte Unsicherheit.


Wie sollten wir damit umgehen?

Jetzt braucht es keine weiteren Wiederholungen. Keine neuen Reize. Keine weiteren Cues.

Jetzt braucht es Sicherheit!

Denn das Gehirn priorisiert nicht Leistung. Es braucht Vorhersagbarkeit und Schutz.

Für die Praxis:

1. Test – Input – Retest

Teste die Bewegung → Gib einen gezielten Reiz → Teste erneut.
Wenn’s besser wird: Bingo. Du hast den Gatekeeper gefunden.

2. Low-Load Repatterning

Sicherheit geht vor Last.
Führe den Körper durch Bewegungsflüsse, die Vertrauen aufbauen.
Langsam. Präzise. Unbelastet.

3. Regulieren vor Integrieren

Erst Hirnstamm beruhigen – dann Kontrolle aufbauen.

4. Kombiniere Bewegung + System

Timing schlägt Technik.

5. Sprich "gehirngerecht"

Sag nicht „neurologisches Repatterning“.
Sag:

  • „Lass uns dein Gehirn sicherer machen.“

  • „Wir helfen deinem Körper, die Bewegung besser zu spüren.“

  • „Wir verändern die Software, nicht nur die Hardware.“

Verständnis entlastet. Sprache schafft Brücke.


Fazit: Dein Plan war nie das Problem.

Das Nervensystem sagt:
„Ich mache nur, was ich als sicher empfinde.“

Wenn du diese Sicherheit nicht adressierst, ist jeder Plan – so gut er auch ist – nur halb wirksam.

Und das gilt nicht nur in der Reha.

Das gilt auch im Training. Egal, ob Leistungssport oder Präventionssportkurs.

Denn Reha und Training teilen dieselben Probleme:
Wenn das Gehirn blockiert, ist der Output zweitrangig.


Was wie Faulheit aussieht, kann Schutz sein. 
Was wie Technikmangel wirkt, kann sensorisch bedingt sein. Was wie „keine Lust“ klingt, kann neurologisch logisch sein.

Wenn du das erkennst, wirst du mehr helfen, mit weniger Aufwand.

 

Und genau das ist angewandte Neurologie:
Ein Rahmen, der nicht gegen den Körper arbeitet, sondern mit dem Nervensystem.